KataCom

Prof. Dr. Wolf R. Dombrowsky

Verdummung 4 – Die dauernde Katastrophe

Heute vor 86 Jahren, am 01. September 1939, begann der 2. Weltkrieg. Er gilt als schlimmster Vernichtungskrieg aller Zeiten, ein „Hyperlativ“, zumindest aber ein absoluter Superlativ, verbunden mit dem politisch motivierten Verbot des Vergleichs. Das macht Sinn, sobald man vom anderen Ende aus denkt, weil dann ja alle anderen Kriege weniger schlimm und nicht ganz so vernichtend scheinen. Als ob es je Kriege ohne Vernichtung gegeben hätte. Die böse Frage lautet also, ob es je Kriege ohne Willen zur Vernichtung gab und geben wird? Hinter der grundsätzlichen Frage nach dem Ziel taucht sofort die Frage nach den dafür verfügbaren Mitteln auf. Von den Mittel aus ist Vergleichbarkeit tatsächlich schwierig. Die Vernichtungsformen fürstlicher Kabinettkriege, des Dreißigjährigen Krieges oder des Ersten Weltkrieges unterscheiden sich dramatisch, doch bestand in allen ohne Rücksicht auf Verluste der unbedingte Wille, sie in vollem Umfang einzusetzen. Erst der Einsatz zweier Atombomben und die Nürnberger Prozesse rückten die Verquickung von Vernichtungswillen und Vernichtungsmitteln in den moralischen Kontext, der ihnen gebührt. Denkt man von da aus voran, kommt man um Vergleiche nicht herum. In der offiziellen Ideologie setzten die USA die Atombomben ein, um den Krieg mit Japan schneller beenden zu können, als es durch ein konventionelles Niederringen möglich geworden wäre. Man könnte also sagen, dass das Überleben amerikanischer Soldaten mit der Vernichtung der Zivilbevölkerung zweier Städte „erkauft“ wurde. Dünnes Eis! Denn laut unserer grundgesetzlichen Werteordnung darf kein Leben gegen ein anderes abgewogen werden (Art. 2 Abs. 2 GG). Wie immer gibt es Gesetzesvorbehalte. Notwehr oder medizinische Triage geben Beispiele, wie auch der berühmte „finale Rettungsschuß“ oder der Abschuß eines Passagierflugzeugs auf dem Weg ins Terrorziel. Die jüngste und stark skandalisierte Erörterung über die Abwägbarkeit des menschlichen Lebens lieferte die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf zum Zusammenhang von Abtreibung und Menschenwürde. Völlig zutreffend verweist sie auf ein verfassungsdogmatisches Dilemma: „Wenn man dem ungeborenen Leben ab Nidation die Menschenwürdegarantie zuerkennt wie dem Mensch nach Geburt (…) wäre ein Schwangerschaftsabbruch unter keinen Umständen zulässig“. Soll also ein Schwangerschaftsabbruch ermöglicht werden, müsse das Recht des ungeborenen Lebens und das Recht der Schwangeren gegeneinander abgewogen werden. Brosius-Gersdorf löst das Dilemma, indem sie die Grundrechte des Embryos und die Grundrechte der (schwangeren) Frau nicht in allen Phasen der Schwangerschaft gleich gewichtet, sondern invers anpasst, indem der Lebensschutz des Embryos in der Frühphase der Schwangerschaft gegenüber der Menschenwürde der Schwangeren zurücktritt. Interessanterweise stellt dies keinen Gesetzesvorbehalt dar, sondern ein „Verhandlungsmodell“: Zu welchem Zeitpunkt einer neunmonatigen Schwangerschaft sind beider Würden gleichrangig? Man könnte auch ganz abwegige Fragen stellen: Wann ist ein Asylant würdig, Deutscher zu werden, nach drei, nach fünf Jahren oder nach einer dezidierten Aufnahme- und Integrationsprüfung? Und wann ist die Vernichtung Anderer der eigenen Vernichtung vorzuziehen? Das Dritte Reich hatte dies sogar gesetzlich geregelt, doch gab es neben den Nürnberger Gesetzen auch starke ideologische Orientierung darüber, was arisch sei und was Untermensch. Überlegungen, die in die Katastrophe führten, aber leider nicht zur Katharsis. Man schaue nur auf die Ukraine und unsere deutschen Abwägungen, ob wir sie langsam untergehen lassen oder eventuell doch…
Und so kommt denn die Vernichtung Europas unaufhaltsam näher.